I wanna go home II
I wanna go home – oder vom Heimkehren und Gefundenwerden
Katrin Bucher

SBKT190508 ist ein am 19. Mai 2008 von Julie Hayward aufgespürter Findling aus Krastaler Marmor. Mit tentakelartigen Stahlarmen breitet sich der 1,4 Meter hohe Stein acht Meter weit über den Boden aus. Pfützenartige Ausläufer beenden seine hoheitsvolle Materialität im ikonoklastisch Surrealen. Im Grotesken des anheimelnd Niedlichen erwacht sein Wesen. O.T., 2007 ist die Zeichnung einer Körpermaschine, eines Zwitters, in dem sich Technisches mit Organischem verzahnt. Mit Tusche auf Papier wurde hier allerdings keine Konstruktionszeichnung entworfen, sondern ein Abbild geschaffen. Von etwas, das zwar nicht logisch verstanden, aber in jedem Fragment körperlich direkt „wiedererkannt“ wird. Was die beiden für Hayward paradigmatischen Arbeiten verbindet, ist die der Figur zugeschriebene, zwitterhafte Wesensartigkeit, die erfahrbare – möglicherweise auch nutzbare – Physis im Technoiden und die hinterlistige Verspieltheit der Form: anheimelnd und radikal verunsichernd zugleich.

Julie Hayward ist Bildhauerin. Sie ist aber auch Fotografin. Und sie ist Zeichnerin. Letzteres frei aus sich heraus, dabei aber immer bildhauerisch formend. Hierarchien sind nicht evident, die Medien stehen immer wieder für sich und sind doch auf den ersten Blick aufs Engste verbunden.

Haywards Arbeiten sind figurativ, objekthaft und in gewissem Sinne auch realistisch. Auch wenn die dargestellten Objekte oft befremdend wirken, so siedeln sie doch im Assoziationsfeld von Werkzeugen aus einem Universum, das visionäre Science-Fiction, seltsam androgyne Erotik und simple Installationstechnik verbindet. Die Objekte sind nachhaltig geprägt von einem Formenvokabular, das gerade im das Erbgut entschlüsselnden 20. Jahrhundert von der Micro- bis in die Macroebenen vom Begriff des Wachstums durchdrungen ist. Unter anderem treten darin Zellstrukturen auf, wie sie beim Biologen Ernst Haeckl bereits Ausgang des 19. Jahrhunderts dargestellt wurden.  Die Assoziationen und Parallelen sind vielfältig: von den fantastisch fließenden Formen und Oberflächenstrukturen, wie sie Designer und Architekten wie beispielsweise Joe Colombo unter dem Einfluss des Mediums Plastik und des futuristisch erscheinenden Nuklearen Zeitalters formulierten, über dadurch geprägte Filme wie „Solaris“ von Andrei Tarkowski (1972) oder „Alien“ von Ridley Scott (1979) über das Leben im All bis hin zum animistischen Vorgehen der Arte Povera, die wie Pino Pascali aus benutzbaren Alltagsobjekten Wesen schuf.
Innerhalb jedes Mediums widmet sich die Künstlerin dem Prinzip des Schaffens, das zwischen dem technisch Gefertigten und dem organisch Gewachsenen, dem Begriff des klassisch Männlichen und des Weiblichen, dem „gerichtet“ Funktionalen und dem „offenen“, ästhetisch Formalen oszilliert. Es ist ein duales Schaffensprinzip, das Hayward zu Sets von Dialogen werden lässt, um das Objekt in seinen Wahrnehmungszusammenhängen zu finden und kategorisch in Frage zu stellen. Hierin manifestiert sich ihre subversive Sprengkraft, die nicht nur Gattungsgrenzen durchdringt, sondern auch an Rollenbildern schleift und unermüdlich nach einem Heimkommen in einer lebendigen und existenziellen Verbindung von Subjekt-Objektbeziehung strebt. Haywards Werk steht in diesem Sinne exemplarisch für das Biomorphe, das sich wandelt, fließt, von einem Zustand in den nächsten übergeht und davon bestimmt ist, das Prozesshafte mit dem Wesensartigen zu verbinden.

Auch innerhalb der Arbeiten tut sich das duale Prinzip der Verbindung als existenzielles Muster auf. Verbunden werden die dargestellten Einzelformen im Zweidimensionalen mit der Linie. Diese mutiert im Dreidimensionalen zum Schlauch oder, wie in TV-Baby (2002), gar zur lebensspendenden Nabelschnur. Andernorts, wie in der jüngste entstandenen Serie „Subliminal“ (2014), wird aber auch gewaltsam verklammert, genietet und geknotet. Geradezu exemplarisch geht die plastische Arbeit Lets dance (2014) die Verbindung des Dualen ein, wenn darin zwei stabile und doch zart aussehende Faltenwürfe über Aluminiumringen in evokativer Verklammerung zum Tanz der Vorstellungskraft auffordern. Jedes von Hayward gefundene Gebilde erhält im Dialogischen eine Stabilität, die es zwar als Abhängiges, aber auch als Bezwingendes zeigt. Haywards biomorphe Gestalten sind in der zweiten wie auch in der dritten Dimension in einem Kräfteverhältnis gefangen, das ihre existenzielle Bedingung in der allgemeinen Verbundenheit gegenseitiger Anziehung erkennt. Die Künstlerin schafft dabei Zugehörigkeiten, die genauso den Schutz der Geborgenheit suggerieren wie auch, im Sinne Freuds, den unheimlichen Zwang des Vertrauten.

Seit Anfang der 2000er Jahre geht Hayward den radikalen Weg des Gefundenwerdens und greift im Zeichnen auf das Unterbewusstsein zu. Sie verwendet das automatische Zeichnen, dem die Surrealisten im Sinne der aufkommenden Psychoanalyse absolute Authentizität zuschrieben, um ungesteuertes Wachstum zu generieren. Das technische Schaffen also formuliert sich im Akt des automatischen Zeichnens seine Gestalten selbst. Es macht sich ein Ebenbild aus den Energieflüssen innerer, in übergeordneter Verbindung stehender Welten.

Bedingungen innerer und äußerer Räume werden in ihren Hüllen und in den Falten der Haut ablesbar und stehen im Sinne von Deleuze in emotionaler Verbindung.  Dahingehend werden in Haywards perfektionierten Oberflächen den Hüllen Existenzen zugestanden, die in Beziehung mit dem Unterbewussten stehen und formale Hinweise auf eine Tradition des Surrealen offenbaren. Wenn Plüschteppiche oder auch gummiartige Oberflächen für ein visuelles Erfühlen eingesetzt werden, so sind, wie beispielsweise in TV-Baby oder Pooped, unsere Sinnesvorstellungen angesprochen. Auch in der körpersuggerierenden Wirbelstruktur und optischen Haptik von Aequilibration (2007) werden sinnliche Materialen eingesetzt und in die Leere und Realitätsfremdheit, sogar in eine Welt jenseits der hiesigen versetzt. Doch nicht auf das Jenseitige, nicht auf das Überreale, sondern im Gegenteil auf das Mögliche im Hyperrealen scheinen Haywards technoide Evokationen abzuzielen.

Barbara Wally formulierte in ihrem Text über Haywards Zeichnungen die überzeugende These, dass die Vorgehensweise der Künstlerin die Formulierung eines dreidimensionalen „Zwischenbewusstseins“ sei. In diesem Sinne ist das automatische Zeichnen nicht (nur) dafür da, das Unterbewusste ungelenkt sprechen zu lassen, sondern um Niederschriften flüchtiger Gedanken zu verfassen, also die Träume der Vernunft zu erhaschen und in der Zeichnung „Form“ werden zu lassen. Das bedeutende Merkmal dieser Dimensionen des Automatischen manifestiert sich darin, dass damit die Zeichnungen – und dadurch die Oberflächen – „vollständig“ sind, dass sie um ihrer selbst willen existieren und die eigentliche Konstruktionserkenntnis sind.
Wally deutet dies in der Tradition feministischer Zeichnungen, etwa bei den Konstruktionen von Weiblichkeit in den Zeichnungen von Birgit Jürgenssen. Was bei dieser These besonders bemerkenswert erscheint, ist Wallys Ansatz, die Gesamtheit des Schaffensprozesses – ganz anders als bei den Surrealisten – als Kontrollgewinnung zu sehen, um dem Unkontrollierten zu entfliehen.

In der philosophischen Fabel „Der kleine Prinz“ von Antoine des Saint-Exupéry über die Bedeutung der Heimat gibt es eine Stelle, wo der neugierige, offene Prinz auf den Fuchs trifft und ihn fragt, ob er mit ihm spielen möchte. Die Antwort des Fuchses, der für das Andere, das Fremde, das Gefährliche, aber auch für die Schlauheit und die Warnung steht, ist eigenartig: „Je ne puis pas jouer avec toi, je ne suis pas apprivoisé“ – „Ich kann nicht mit dir spielen. Ich bin noch nicht gezähmt.“ „A-privoiser“ bedeutet wörtlich: ich bin privat, stecke in mir und bin noch nicht sozialisiert. So wird erst mit dem Heraustreten aus dem Privaten die Gefahr gezähmt und das Wesentliche sichtbar.
Haywards Vorgehen, sich das Zwischenbewusstsein durch die Zeichnung und die anschließende Übersetzung in das haptische Objekt der Hülle anzueignen, ließe sich dementsprechend gegenläufig lesen – als langsames „Apprivoiser“ – als zielgerichtete Erfahrung und Bekanntmachung mit unheimlichen, aber anziehenden Räumen des Unterbewussten in einen Zustand des Gezähmtseins. Wie beim Prinzen, der seine Heimat verlässt, um sie durch die Distanz zu finden, ist das Sichbekanntmachen ein Prozess, ein langsames Kennenlernen und Erfahren, ein Abstecken der Grenzen und ein Bewusstmachen der Regeln. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt der Fuchs.
Diese Suche nach der Heimat ist bei Hayward ein wiederkehrendes Thema. „I wanna go home“ war der Titel zweier Ausstellungen 2011 und gleichzeitig der Titel einer wegweisenden Arbeit, die dort gezeigt wurde.  Viele Assoziationen lässt das schwarzglänzende, mit Kunstleder überzogene Objekt im Raum zu. Handelt es sich bei der Arbeit um eine „vergessene Abschussrampe“, wie Silvie Aigner schrieb,  oder um einen martianischen Köcher, eine überdimensionale Hörmuschel oder gar das gen Himmel ausgerichtete Wartehäuschen des heimwehgetriebenen ET? Schon die Materialität evoziert Szenen sexueller Phantasien und Fetischobjekte einer anderen Art. Doch gerade durch ihre selbstverständliche, zurückhaltende Kompaktheit, die in der technischen Perfektion und der auf den Betrachter abgestimmten Größe liegt – eben durch ihr Gezähmtsein –, zieht die Arbeit die wissenshungrigen BetrachterInnen nah an sich heran. Deren Gefühle schwanken nichtsdestotrotz zwischen Wiedererkennen und Unverständnis – oder anders ausgedrückt, irgendwo zwischen dem Heimlichen und dem Unheimlichen. Ähnlich verhält es sich mit der Arbeit Catch me if you can, die in Titel und Form dem Thema des Flüchtigen gewidmet ist und das Heimkommen mit Humor und ironischem Unterton als eine Suche nach dem Unerreichbaren darstellt.
Die Einladungskarte zur Ausstellung „I wanna go home“ ist, wie alle fotografischen Arbeiten von Julie Hayward, besonders stark verschlüsselt: Im Zentrum des nächtlichen Motivs strahlt ein hell erleuchtetes Fenster – Glasbausteine in T-Form, die Wärme versprechen, aber gleichzeitig den Eintritt verwehren und ein Signal des Unerreichbaren aussenden. Dieses Unerreichbare scheint auch gen Himmel gerichtet beziehungsweise im Aufstieg begriffen zu sein, die Stadt im Hintergrund weit hinter sich lassend.
Die Arbeiten von „I wanna go home“ verschmelzen das Alphabet des Biomorphen mit dem des (im Wortsinne) Kultivierten und von Menschenhand Gemachten. Sie geben vor, sanft zu sein, Heimat, Schutz und Nutzen zu bieten. Dies aber nicht, ohne auf eine inhärente Spannung und Kraft des Abgründigen zu verzichten und die eigene Härte und Aggression als Teil dieses Heimes anzuerkennen. Denn in der Zähmung wie in der Betrachtung geht es nach Julie Hayward darum, die Gefahr der Aggression als produktiven Teil des Ureigenen anzuerkennen.

„Ohne Referent sind wir nur Blinde. Wir leben nur von Beziehungen.“  Für Haywards Medien gibt es also tatsächlich keine Hierarchie. Eine innere, den Entstehungsprozess begleitende Verwandtschaft zieht sich durch das gesamte Schaffen, das, in einen historischen Zusammenhang gesetzt, Parallelen zu unterschiedlichen Werkkomplexen zulässt.  Von Lee Bulls Fetischisierung modernistischer Formen über Birgit Jürgenssens Form der zeichnerischen Befreiung bis hin zu Louise Bourgeois’ Umgang mit der Sehnsucht nach dem schützenden Haus oder Bruno Gironcolis Umgang mit dem Wesenhaften des skulpturales Materials lassen sich viele Bezüge herstellen. Auffallend ist, dass Hayward sich an alle Formate traut. Dabei ist sie dem ironischen Pop und der Auseinandersetzung mit der Kunst als Ware genauso wie der Materialwirkung durch die Aufarbeitung der Psychoanalyse verpflichtet. Auch hier bewegt sich Hayward dual, indem sie das Medium nicht nur für die Vermittlung zwischen Inhalt und Aussage nutzt, sondern das allgemein Vermittelnde und Verbindende per se thematisiert. Und so steht bei Hayward die osmotisch gewachsene und visuell erspürbare Hülle für den Ort der lebendigen Kreation, an dem Technik und Natur sich miteinander versöhnen.