Parallelwelten des Emotionellen und Unterbewußten
Sabine Schaschl

Julie Haywards Skulpturen und skulpturale Installationen sind „Emotionsskulpturen", die Psychologisches anhand raumgreifender, an biologische, alltägliche, surreale oder laborartige Formen erinnernde Gebilde zum Ausdruck bringen. Überblickt man ihr Schaffen von den frühen Werken der späten 1990er Jahre zu den jüngsten, so fällt eine Entwicklung auf von in sich geschlossenen Formen hin zu offenen, Innen und Außen verschränkenden, und von der Verwendung kompakter, schwerer Materialien zu diversen leichteren, welche oft im Materialmix auftreten. Parallel zur Entwicklung der Skulpturen verändern sich auch die Zeichnungen, die das skulpturale Werk von Anfang an vorbereiten.
In den frühen Zeichnungen fokussiert Hayward bestimmte Themenstellungen und hält die diesbezüglichen Vorstellungen zur skulpturalen Umsetzung zeichnerisch fest. Neben der Skulptur selbst sind ihre Platzierung und der Umraum mit dargestellt. Diese Art der klassischen Entwurfszeichnung ändert sich ab dem Jahr 2000 mit der Erarbeitung des Werkes „Informationsassimilator“. Die Künstlerin sucht nunmehr nicht nach Themen und ihrer Umsetzung als Skulptur, sondern läßt eine Art psychischen Automatismus zur Formfindung zu. Mit diesem Befreiungsakt wird es ihr möglich, intellektuell Aufgenommenes, im Unterbewußtsein Angesammeltes und Bewußtes in Form von Bildern neu zusammenzusetzen. Wie Jean Starobinsky hervorhebt, begünstigt der Automatismus „das Hervortreten des Gedankens im ursprünglichen Zustand", und dieses Ursprüngliche bringt in den Zeichnungen und Skulpturen neue Formen, Inhalte und damit verbundene Konnotationen hervor.

Die Wahrnehmung von Wirklichkeit, ihre unterschiedliche Erscheinung und das Hinterfragen von geltenden Wirklichkeitsvorstellungen prägen vor allem die Frühwerke Haywards. „Sleeping along …“, 1998, eine hängende skulpturale Installation, in der Porzellanfische in einer transparenten Blase dahintreiben, ist die Momentaufnahme einer existentiellen Wirklichkeitswahrnehmung. Die Künstlerin hat damit ein psychologisches Bild des Gefangen-Seins in der eigenen Wirklichkeitsvorstellung geschaffen, das mit dem Wissen einer „äußeren“ Wirklichkeit kämpft, ohne jedoch aus der „inneren“ Zufluchtsstätte ausbrechen zu können. Die Kommunikation zwischen den beiden Wirklichkeitszuständen basiert auf einer sublimierten Ebene, bei der die Wahrnehmung des jeweils Anderen auf das wahrnehmende Ich zurückgeworfen wird. „Es geht um Wollen, um Wach-Sein und Wegtauchen, um ein Versponnen-Sein in der eigenen Wirklichkeit, welche, ist man zu versponnen, fast dem Schlaf gleichkommt“ (Julie Hayward).
Der metaphorische Ausbruch aus der im Rückzug verhafteten Ich-Wirklichkeit gelingt in „My Personal Rockets“, 1999. Dabei durchlaufen jene „Personal Rockets“ Metamorphosen, die zwischen Fisch und Raketenform in verschiedenen Stadien verharren. Mit Kiemen überzogen oder von einem Ring in Zaum gehalten bis hin zur kräftigen, einsatzbereiten Rakete reicht die Ausdrucksbreite der Formen, die sich nach und nach ihren vermeintlich ersehnten Weg in die Freiheit zu erkämpfen scheinen. Gepaart mit der Kraft des Ausbrechens kommt jedoch auch ein Aggressionspotential zum Ausdruck, das sowohl produktiv als auch destruktiv konnotiert sein kann.
Wirklichkeitswahrnehmungen thematisiert auch “Wir unter uns“, 2000, wobei in diesem Werk nicht die Wahrnehmungen eines Einzelnen, sondern die einer Gruppe untersucht werden. Die Bodenskulptur besteht aus zehn bauchigen, mit mundartigen Öffnungen versehenen und nach oben hin stachelig zulaufenden Formen, die zueinander in einem hermetisch wirkenden Kreis angeordnet sind. Die dem Betrachter zugewandte Rückseite, der Stachel und die kreisförmige Anordnung der Skulptur erwecken den Eindruck des Abwehrens und Ausschließens. Julie Hayward verweist auf Platons Höhlengleichnis, in welchem für eine Gruppe von in der Höhle aufgewachsenen Menschen das Gedachte und die Ideen die wirkliche Welt darstellen und die tatsächliche, reale Welt zum Schattenbild des Gedachten und der Ideen wird. Platon verweist darauf, daß selbst dann, wenn einer aus der Gruppe die Höhle verlassen und die wirkliche Welt erkennen würde, dieser jene Erkenntnis als unwahr betrachten und in die Wahrnehmungsvorstellung der Gruppe zurückkehren würde. Die Platon’sche Erkenntnis, angewandt auf das gesellschaftliche Funktionieren innerhalb wirtschaftlicher Strukturen, resultiert in einem Prinzip, welches Irving Janis als „Groupthink“ umschreibt. In homogenen Gruppen mit zu starker Selbstbezogenheit werden von außen kommende Lösungsansätze abgewehrt und verhindert, was oftmals Fehlentscheidungen zur Folge hat. Haywards Skulptur visualisiert jene potentielle Situation, wobei sie sowohl das Geborgen- und Aufgehoben-Sein innerhalb der Gruppe als auch das hermetische Ausschließen thematisiert. „Wir unter uns“ ist nebst seiner konkreten, aus der psychologischen Forschung abgeleiteten Fragestellung gleichzeitig ein Gesellschaftsbild für eine Gegenwart, in der das „Andere“ und „Fremde“ nicht zugelassen wird.
Mit der Skulpturengruppe „Core-Protector“, 2000, und „Inside-Out“, 1999, fällt eine thematische Hinwendung zum “Innenleben“ bzw. zur Frage nach der psychologischen Entwicklung des Selbst zusammen mit der erstmaligen Verwendung durchlässiger Materialien. Eine mit kreisförmigen Öffnungen versehene Zeppelinform aus Papier umhüllt in „Core-Protector“ einen roten Plüschkern. Diese hängende Skulptur gibt ebenso wie „Inside-Out“ einen Blick ins Innere frei und hebt dieses auch durch die rote Farbe und die haptische Qualität des Plüschmaterials – das zum Be-greifen auffordert – hervor. Der Titel „Core-Protector“ verweist auf die „Core-Energetik“, eine Wissenschaft, in welcher der Wilhelm-Reich-Schüler Pierrakos davon ausgeht, daß der psychische Kern des Menschen von Schutz- und Energieschichten umgeben ist, welche sich bei Störungen überlagern und dadurch den Energiefluß blockieren können. Die Künstlerin verweist in ihrer Skulptur sowohl auf dieses Denkmodell als auch auf eine generelle emotionale Situation, in der Empfindungen und Gefühle zum Austausch zugelassen werden. Bei „Inside-Out“ ragt ein roter Plüschschlauch aus dem Inneren einer halbierten Kernform nach außen und erstreckt sich bis an die Decke, an der er anzudocken versucht.
Was in dieser Skulptur noch als Versuch erscheint, gelingt in „Suck“, 2000. In dieser Skulptur, einer eiförmigen, mit kleiner Öffnung versehenen Form, verbinden sich zwei Greifarme und deren saugnapfartige Enden mit den Wänden. „Suck“ thematisiert das Phänomen, daß sich Erinnerungen, Bilder, Sätze, Gefühle der Vergangenheit an einem festsaugen bzw. daß man sich an ihnen festsaugt, was in beiden Fällen daran hindert, „in der Gegenwart zu sein“ (Julie Hayward).
Eine weitere Skulptur, der „Informationsassimilator“, beschäftigt sich mit dem Filtern von Informationen: Vier ovale, mit großen Öffnungen versehene Formen, die an einer grauen Plüschfläche an der Wand angebracht sind, scheinen Eindrücke und Informationen aller Art aufzunehmen, die allesamt zu einer größeren, organartigen, ebenso auf Plüsch platzierten Gestalt zusammenführen. Ein kreisförmiger Plüschteppich vor diesem Mittelteil könnte das ausgespuckte Resultat eines Filtervorganges – sowohl das Gefilterte als auch das Verdaute – versinnbildlichen. Hayward integriert in diesen Werken erstmals maschinelle Aspekte: Die Skulpturen evozieren die Darstellung abstrakter Vorgänge der menschlichen Emotionswelt, was – oft gepaart mit Humor und Ironie – jene auf die Spitze zu treiben scheint.
Auch „Sublimator“, 2003, ist die skulpturale Version einer Maschine. Ihr Funktionieren ist vorgetäuscht, die Vorgänge können lediglich auf einer metaphorischen und geistigen Ebene vollzogen werden. Ein herzförmiges, rotes Element in einer weißen Behälterform wird in diesen Werk vermeintlich „verwurstet“, also in eine von zentrifugaler Kraft durchtriebene Form weitergeleitet, welche schließlich einen roten Endlosschlauch produziert. Wie im Titel angedeutet, thematisiert das Werk die aus der Freud’schen Psychoanalyse bekannte Sublimation, bei der sexuelle Energien auf einer anderen Ebene ausgelebt werden. In „Sublimator“ wird die sexuelle Energie, angedeutet durch die Herzform, transformiert in eine jederzeit griffbereite Massenware.
Wird die Ausgangsenergie in „Sublimator“ noch umgelenkt und verändert, so bricht sie in „… elsewhere“, 2004, vulkanartig aus. Eine Art nach oben zulaufender, schwarzer Kessel wirft dabei auf langen Eisendrahtfäden aufgewickelte Kugeln aus, die bis auf wenige in zwei Tellerformen aufgefangen werden. Diese eruptive Kraft steht im Gegensatz zur Figur „big mama“, 2004, aus den gleichen Materialien. „big mama“, eine Art halbrunder Wiegefigur aus schwarzem Kunstleder, trägt in ihren beiden Innenkörpern eine große Ansammlung von Kugeln, die behütet und geschützt von der Außenwelt scheinen. Die Kugeln als Bestandteile des Selbst erfahren sowohl das Ausbrechen und die Befreiung als auch das Behütende, Schützende, nicht zuletzt Mütterliche.

Haywards Skulpturen sind räumliche Bilder psychologischer Vorgänge. Nähern sich die frühen Werke noch allgemeinen Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsbetrachtungen, so beschäftigen sich die jüngsten Werke mit psychischen Konstruktionen, inneren Prozessen und existentiellen Fragestellungen. Ständige Selbstbeobachtung, Literaturrecherchen und das Freisetzen unbewußter Energien – generiert aus den im Prozeß des psychischen Automatismus entstandenen Zeichnungen – wirken auf die Skulpturen ein. Die Künstlerin verknüpft vertraute Elemente mit befremdlichen und solchen, die die Wahrnehmung irritieren. Die oftmals skurrile Titelgebung funktioniert als Fährte. Haywards Skulpturen erforschen Zustände, die noch nicht konkret faßbar sind. Mit ihren eigenständigen skulpturalen Mitteln unternimmt die Künstlerin den Versuch, etwas noch Unbekanntes auf den Punkt zu bringen. Für den Rezipienten funktionieren die Werke als Spiegelbilder der Psyche, mit denen er sich auseinandersetzen oder denen er ausweichen kann.


Erschienen im Eigenverlag
Julie Hayward, Skulpturen und Zeichnungen, 2005