Aequilibration
Lucas Gehrmann

Äquilibration bezeichnet allgemein die Aufhebung des inneren Spannungszustandes eines Organismus oder eines Systems auf seine Umwelt durch diesen selbst. Diese Selbstregulation wird erreicht durch Organisation (Koordination) und/oder Adaptation (Anpassung) bzw. Assimilation und Akkommodation. (Nach Wikipedia)
Julie Hayward versammelt („organisiert“) in ihrer Ausstellung im Kunstraum Viktor Bucher skulpturale Objekte, Fotografien und Zeichnungen, die mit jeweils unterschiedlichen psychischen wie auch physischen Verfasstheiten und Zuständen assoziiert werden können. Ihre groß dimensionierten Objekte, deren Formen und Oberflächen biomorphe mit technoiden Strukturen vereinen, haben bisweilen selbst ambivalente „Charaktere“. So schwebt etwa Pounding Flow eher träge im Raum, während seine an Schutzschilde und Schaufeln erinnernden Hauptteile zugleich abwehrend bis bedrohlich wirken. Die mehrteilige Skulptur Aequilibration lässt einerseits an eine wirbelsäulenartige und damit tragende Struktur denken, andererseits wird sie durch ihre virtuell rotierenden Einzelteile in höchste Labilität versetzt. „Innere Spannungszustände“ also scheinen diese Gebilde zu beseelen, die sich in Relation zu ihrer äußeren Geschlossenheit auf eine ihre BetrachterInnen mehrfach irritierende Weise artikulieren: Haywards plastische Formulierungen suggerieren nicht zuletzt aufgrund der hohen Perfektion und Präzision ihrer (technischen und gestalterischen) Ausführung eine „Wahrhaftigkeit“, die ihnen das Potenzial realer, wenn auch bislang nicht bekannter bzw. so nicht gesehener Existenz verleiht. Als kognitiv herangehende BetrachterInnen werden wir daher eher an unserem eigenen Wissen von Welt zweifeln, statt die Objekte unvermittelt in den Bereich des rein Phantastischen „abschieben“ zu können. Aber auch wenn wir uns ihnen stärker emotional nähern, werden wir feststellen: wir kennen sie (so) nicht, doch sie sind uns nicht unbekannt. Nicht in der äußeren, „realen“ Welt finden wir ihre Verwandten, sondern in der Welt unserer Träume, des Unterbewusstseins. „Die Abgründigkeit, die sich in Haywards Skulpturen auftut, wird in Freudscher Manier mit einer psychischen Parallelwelt gleichgeschaltet, in der das Unheimliche mit Gefühlen des Alltags gekoppelt wird und sich humorvoll in einer künstlerisch verhandelten Formensprache wiederfindet“, schreibt Walter Seidler. Es ließe sich auch sagen: Julie Hayward bringt zwei Sprachen zusammen, die sich in unserer Zivilisation in einem (ungerechtfertigten) Ungleichgewicht befinden: die rationalistische Logik (als das dominante, weil allgemein erlernbare System zur „Beschreibung“ von Welt) und die (nicht determinierte) Logik des poetischen, kreativen, emotionalen Denkens.
Letzteres ist auch die Basis der Haywardschen Formfindungen: ihre Zeichnungen, von denen eine Auswahl der Umsetzung in dreidimensionale Objekte dient, entstehen in einer Art psychischen Automatismus’ –, wodurch, wie Jean Starobinsky schreibt, „das Hervortreten des Gedankens im ursprünglichen Zustand ermöglicht“ wird. „Aequilibration“ als Ausstellungstitel beschreibt so gesehen das Ideal der Ausgewogenheit von Gegensätzen, die nur als solche verhandelt werden. Die „Sprache der Kunst“ zeigt auf, dass scheinbar Widersprüchliches vereinbar ist, oder richtiger vielleicht: im Grunde vereint ist.


Erschienen in:
Folder erschienen zur Ausstellung „Aequilibration II“ bei Viktor Bucher, 2009