Traumhaft wirklich
Gustav Schörghofer

Als würde der Vorhang leicht gehoben und der Blick auf eine Bühne freigegeben. Als würde durch eine Öffnung in der Oberfläche der vertrauten Wirklichkeit der Einblick in eine Innenwelt ermöglicht. Als würde Altbekanntes mit einem Mal fremd vor einem stehen, ganz nahe und zugleich entrückt.
Was ist das? Eine Art Kanone, die Kugeln ausschleudert. Sie hängen an langen Drähten und sind in zwei Schalen gelandet. Daneben gegangen ist nur sehr wenig. Das Ganze wirkt springbrunnenartig, etwas wird verspritzt, verströmt. Und ein zweiteiliges Gebilde, das etwas hat von einer Wiege, einer Figur, einer Kanone, einem Katafalk. Diese „big mama“ hat in ihrem Bauch und einem davon abgetrennten Teil viele, viele Kugeln gesammelt. Aber sie teilt nichts mit. Sie wirkt wie ein Grab, eine stumme Höhle. Vielleicht wird etwas ausgebrütet? Vielleicht sind die Kugeln wie der Laich im Bauch eines Fisches, Leben, Anfang neuen Lebens? Mutterleib und Grabkammer zugleich. Betrachter und Betrachterin werden vor eine Frage gestellt. Wer nur sammelt, stirbt mit dem Gesammelten.
„... elsewhere“ vermittelt den Eindruck eines Geschehens. Es geht von einem zum anderen. Etwas wird mitgeteilt. Ein Teil, robust und filigran zugleich, lässt aus seinem Inneren etwas hervortreten. Das landet anderswo, gesammelt und zur Ruhe gebracht. Die erstarrten Bogen der Flugkurven unterstreichen den Eindruck eines merkwürdigen Stillstands. Alles ist angekommen, einiges neben den Schalen. Da ist Anfang und Ende zugleich.
Verströmen und umfangen, mitteilen und sammeln, sich schließen und sich auftun, enthüllen und verbergen: Leitmotive des Körperlichen und des Geistigen, die großen Themen des Lebens. Doch all das eigenartig distanziert, in schwarze Haut aus Kunstleder eingenäht, alles schwarz. Wer diese Gebilde betrachtet, wird um eine Verlegenheit nicht herumkommen. Denn das Betrachtete ist vieldeutig, entschlüpft dem Begreifen immer wieder wie ein Fisch. Dass der Innenraum von „big mama“, die so verschlossen wirkt, sich doch so frei dem Blick öffnet. Dass das kanonenartige Gebilde von „... elsewhere“, das Gestalt gewordene Sich-Mitteilen, doch so abgeschlossen und uneinsichtig erscheint. Dass all das etwas ist und zugleich wieder nicht ist. Dass es auf etwas hinweist, das es zugleich auch verbirgt.
Was sich hier abspielt, verhält sich zur kontrollierbaren Alltagswirklichkeit so wie das Geträumte zum Gemachten. Es deckt etwas auf. Der Vorhang wird gehoben, aber nur ein bisschen.

Erschienen in:
Schau-Stücke. Aus der Galerie der Welt der Frau
Verlag: Welt der Frau, Linz 2004