• Zellseelen – Seelenzellen
    Zellseelen – Seelenzellen
    , Theseustempel, Wien, 1997
    Foto: Marianne Greber

 
  • Zellseelen – Seelenzellen
    Zellseelen – Seelenzellen
    , Theseustempel, Wien, 1997
    Foto: Marianne Greber

 
Zellseelen - Seelenzellen
, Theseustempel Wien, 1997[ Text einblenden ][ Text ausblenden ]

Zellseelen Seelenzellen
Jeanne Silverthorn

Der Titel von Julie Haywards Ausstellung „Zellseelen – Seelenzellen“ zeugt von einer mystisch-transzendenten wie von einer biologisch-materialistischen Ausrichtung. Ein Universum von Augäpfeln, die aus Alabasterformen bestehen und ihre Blicke auf das Universum richten – ein Blick der Wechselseitigkeit, denn zur Abwechslung ist es das Kunstobjekt, das auf uns zurückblickt. Einfühlsame Stängel beobachten uns so intensiv wie außerirdische Wesen, die mit uns zum ersten Mal Kontakt aufnehmen. Sie mögen an Science-Fiction denken lassen, doch heute lehrt uns die historische Forschung dieses Genres, dass unsere Vorstellung von Außenwelten auf unserem Wissen von Innenwelten beruht, der Welt der inneren Organe, dem Mikroskop. Andererseits fungiert Haywards Inszenierung von einer mit Augäpfeln gefüllten Welt als eine Art objektives Korrektiv für das Sehen selbst, vielleicht auch für die romantische Verknüpfung von Auge und Ich (eye – I), ganz sicher aber für die Vorstellung vom Auge als Fenster zur Seele. Andererseits ist die Inszenierung auch mit der traditionellen Verbindung von Sehen und Beweis verhaftet. So notiert Henry Zerner im Zusammenhang mit der Überzeugung Leonardo da Vincis, dass das Sehen ein Erkenntnisinstrument darstelle: „Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert war die Entwicklung der Wissenschaft eng verbunden mit der Sehkraft, denn das Sichtbare ließ sich gut aufzeichnen.“
Dazu passt Haywards Bekundung, dass der Titel ihrer Ausstellung einem Werk von Ernst Haeckel entstammt, einem Biologen und Philosophen der Jahrhundertwende, der als erster Plankton unter dem Mikroskop untersucht und wunderschöne Zeichnungen der Strukturen angefertigt hat. Hier entdeckte Hayward Gebilde, die ihren Skulpturen ähnlich waren. „Ich dachte also, dass diese Gebilde vielleicht etwas mit unserem Wissen von ihnen zu tun haben. Es ist, als würde man etwas entdecken, was schon da ist und was auf einer bestimmten Bewusstseinsebene im Denken Gestalt annimmt.“ Die Gedanken eines anderen Philosophen, Jean Gepser, fasst sie so zusammen: „Alles ist bereits vorhanden ... und wird entdeckt – Entwicklung geht also zurück auf den Ursprung. Haeckel war auch ein Monist, der glaubte, dass die Seele organisch sei und sich aus derselben Zelle entwickle.“ All dies erinnert an die mittelalterlichen Modistae, die Grammatiker, die laut Umberto Eco „die Existenz von sprachlichen Universalien postulierten“ – ein Glaube, den Dante und andere mit dem Verschwinden einer vollkommenen Sprache nach Babel in Zusammenhang brachte, einer vollkommenen Sprache, die „das wahre Wesen der Dinge ...“ widerspiegelte. Was gab es nun nach Babel? Bloß gebrochene und unvollkommene sprachliche Formen. Bis zu einem bestimmten Grad verweist Haywards Diskurs auf eine ähnliche Suche nach einer gemeinsamen (visuellen, nicht verbalen) Sprache, die einst bestand und das Wesen der Dinge zum Ausdruck brachte. Aus dieser Perspektive wohnt den fragilen eiförmigen Gebilden, die über den Boden verstreut liegen, eine Wehmut inne – eine Spur von Humpty Dumpty.
Doch die Sehnsucht könnte mehr ein Streben nach Verstehen und dem besseren Verständnis einer Intuition sein als einfach nur Nostalgie. (Immerhin stammt Chomskys extrem säkulare „generative Grammatik“, wie Eco feststellt, indirekt dem spirituellen Denken der mittelalterlichen Modisten.) Hier wieder Hayward: „In meinen Formen sieht man ... zwei Gebilde, die miteinander verbunden sind ... eine Art Energiefeld scheint sie zu umgeben und zueinander zu ziehen ... doch sie verschmelzen nie wirklich ... sie werden wieder voneinander weggezogen.“ Dieses Möbiusband von Beziehung und Differenzierung ist grundsätzlich organisch und sozial. Hayward verbindet das mit Henemanns Bemerkungen in Media Culture and Myths: Regressive Tendencies in the Progress of Modern Times: „Die Evolution ist ... ein Prozess, der sich wandelt und transzendiert ... sie ist der Zeit unterworfen und daher unumkehrbar ... die Zeit bringt Vielfalt und komplexere Strukturen mit sich ... dadurch entstehen höhere Formen von Bewusstheit ... die zunehmend Bewusstsein kreieren.“

Ob retrospektiv, introspektiv oder prospektiv – Haywards Versuch, Vereintes zu teilen und Geteiltes zu vereinen, wie Goethe es beschrieb, ist das Leben der Natur, „das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind“.


Erschienen
anlässlich der Ausstellung „Zellseelen Seelenzellen“,
Zellseelen - Seelenzellen
Theseustempel Wien, 1997